Eine gerechte Vermögenssteuer stärkt die Mittelschicht und den sozialen Zusammenhalt

Die Vizepräsidentin des EU-Parlaments Evelyn Regner sieht in klug gemachter Besteuerung von Vermögen und Erbschaften einen wichtigen Beitrag für Sicherung der Demokratie, denn diese braucht Gerechtigkeit – Ohne gerechte Verteilung kein Mittelstand, ohne Mittelstand keine Demokratie. 

Für eine sozialdemokratische Europapolitikerin gibt es Anfang Mai einige symbolträchtige Tage. Angefangen mit dem 1. Mai, dem Tag der Arbeit, über den 8. Mai, an dem wir die bedingungslose Kapitulation Nazi-Deutschlands und das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa begehen, bis hin zum 9. Mai. An diesem Tag feiern wir die Schuman-Erklärung, die Verbindung der deutschen und französischen Stahl- und Kohleproduktion, um kriegerischen Konflikte der europäischen Staaten in Zukunft zu verhindern. Wir feiern also die Schaffung der Europäischen Union. 

Die Europäische Einigung gilt als Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg, Faschismus und Holocaust. Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war die Antwort auf die erste. In diesem Sinne ist die Klammer, die sich um den 1., 8. und 9. Mai schließt, eine logische Abfolge. Denn es war die Verelendung der Massen, das Auseinanderdriften von Arm und Reich, die gesellschaftliche Spaltung und das Trauma des Ersten Weltkriegs in den 1930er-Jahren, die in den faschistischen Vernichtungskrieg der 1940er-Jahre führten. 

Warum rufe ich dies nun zum 9. Mai 2023 in Erinnerung? Weil das seit 1945 geschaffene Fundament der Demokratie, welche vom sozialen und gesellschaftlichen Ausgleich lebt, ohne regelbasierten politischen Wettbewerb und ohne eine starke Mittelschicht nicht überlebensfähig ist. Weil dieses Fundament im Angesicht von Dauerkrise, Pandemie, Krieg, Klimanotstand und Vermögensungleichheit ins Rutschen geraten ist – und zwar massiv.

Besonderen Anlass zur Sorge gibt natürlich neben der Klimakrise die aktuelle Teuerung. Die Kosten für Wohnung, Heizung und der Wocheneinkauf sind auch für große Teile der sogenannten Mittelschicht immer schwerer leistbar. Schon länger bestätigen die Zahlen: Österreichs Wohlstand sinkt insgesamt und ist gleichzeitig immer ungerechter verteilt. Im letzten Herbst stellt die Arbeiterkammer fest: Fünf Prozent der Bevölkerung besitzen 55 Prozent des Gesamtvermögens in Österreich. Und trotzdem hat Österreich eine der niedrigsten Steuerquoten auf Vermögen. Das ist Gift für unsere Demokratie. Denn ohne gerechte Verteilung, verfestigen sich nicht nur Abstiegsängste, sondern auch die Skepsis gegenüber dem Funktionieren unseres demokratischen politischen Systems. Wir sehen das in Europa bereits mit dem erneuten Erstarken rechter Parteien, mit dem Anstieg der Armut und vor allem: der Angst und Unsicherheit. Damit gerät alles ins Wanken und in der österreichischen Bundesregierung passiert herzlich wenig. Hier können wir sagen: Zum Glück gibt es die EU. Denn die EU fängt einiges davon mit Wiederaufbaufonds, Klimatickets, Stärkung der Gewerkschaften, sowie verpflichtenden Maßnahmen zur Gleichstellung von Frauen ab. Aber es braucht mehr. 

Eine kluge Besteuerung von Vermögen und Erbschaften wird gerne von den Konservativen als Schreckgespenst an die Wand gemalt. Dabei muss niemand Angst davor haben. Im Gegenteil, denn gerade die gerechte Verteilung von Vermögen bildet die Grundlage für eine starke Mittelschicht – und diese ist wiederum Fundament für eine starke Demokratie. Der Ansatz, Vermögen von oben nach unten zu verteilen, ist eine bewährte Maßnahme. Bereits der US-amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt hat mit seinem New Deal eine Vermögenssteuer eingeführt, um der demokratiegefährdenden Vermögenskonzentration Einhalt zu gebieten. Und tatsächlich: durch die eingeführte Vermögenssteuer konnte sich eine Mittelschicht bilden, die wieder Vertrauen in das politische System hatte und Wohlstand in den USA absichern konnte. 

Jetzt geht es darum, dieses Vertrauen der Menschen in ganz Europa zurückzugewinnen. Ihnen das Vertrauen in eine gute Zukunft zu geben, für sich und alle künftigen Generationen. 

Ich bin mehr als überzeugt, dass mittels der Einführung einer Vermögenssteuer ein erster Grundstein dafür gelegt werden könnte. Die Errungenschaften, die unseren europäischen Sozial- und Wohlfahrtsstaat ausmachen, und auf die wir zu Recht stolz sein können, müssen nicht nur abgesichert, sondern weiter ausgebaut werden. Diese zusätzlichen Einnahmen müssen wir verwenden, um in unser Kranken- und Pflegesystem zu investieren, in unser Bildungs- und Forschungswesen und in erneuerbare Energien. Ziel ist, den Wohlstand der Menschen im Einklang mit der Natur in den Mittelpunkt zu stellen. 

„Die Europäische Union wird in Krisen geschmiedet“, sagte schon Jean Monnet – ein weiterer Gründungsvater der Europäischen Union. Es ist an der Zeit, dass wir die Sozialunion finalisieren, dass wir geeint handeln, um das Leben aller abzusichern und im besten Fall zu verbessern – und das geht nur mit einer starken EU!